Stellungnahme zum Selbstbestimmungsgesetz
Stellungnahme zum Gesetzesentwurf des Selbstbestimmungsgesetzes der Gruppe nonbinary.berlin
Wir sind nonbinary.berlin, eine aktive Community nicht-binärer Menschen unterschiedlicher Hintergründe, welche sich seit 2018 regelmäßig einmal pro Monat trifft. Wir organisieren Veranstaltungen und gemeinsame Aktivitäten, unterstützen einander und engagieren uns politisch. Insbesondere setzen wir uns ein für die Gewährleistung des Rechts, Geschlechtsidentität selbstbestimmt zu leben, ein Bereich, in dem wir durch die bestehende deutsche Gesetzgebung Diskriminierung erfahren.
Wir sind überzeugt, dass es für die Gesetzgebenden von enormer Bedeutung ist, die Bedarfe und Wünsche der Menschen zu berücksichtigen, die das Gesetz betreffen wird - und die Stimmen der Betroffenen bei der Verhandlung über die Details des Gesetzes zu hören. Deswegen legen wir in dieser Stellungnahme unsere Positionen dar - in Abstimmung mit vielen anderen Gruppen in den betreffenden Communities, welche gleichermaßen ihre eigenen Stimmen öffentlich machen. Wir hoffen, dass die Gesetzgebenden uns anhören und umsetzen, wofür dieses Gesetz gedacht ist: Das Recht jeder Person auf Achtung und respektvolle Behandlung in Bezug auf die Geschlechtsidentität zu verwirklichen.
Vor drei Jahren mobilisierten wir trans*, inter* und nicht-binäre Aktivist_innen vor dem Bundestag, um den früheren Gesetzesentwurf des Selbstbestimmungsgesetz zu unterstützen. Dieses Gesetz wurde nicht verabschiedet, weil eine der Fraktionen, trotz ihres Versprechens gegenüber den Wähler_innen, dagegen stimmte. Nun bilden die Parteien, die ihren Wähler_innen versprochen haben, den ehemaligen Gesetzentwurf zu verabschieden, die Koalition. Jedoch entschieden sie sich nicht dazu, die Macht, die ihnen durch die Wähler_innen übertragen wurde, dazu einzusetzen, genau das frühere Gesetz zu verabschieden. Stattdessen entschieden sie sich für eine gekürzte Version, voller eklatanter Lücken und von einem diskriminierenden Diskurs getragen, welcher eine Atmosphäre der Angst durch imaginierte Szenarien erzeugt.
Der im Mai 2023 veröffentlichte Gesetzesentwurf beginnt mit einer vielversprechenden Bekundung seines Zwecks:
Die Beseitigung der Notwendigkeit mittels einer Begutachtung durch eine dritte Partei über die Geschlechtsidentität einer Person zu bestimmen, so dass jede Person das Recht zur Selbstbestimmung frei ausüben kann, sowie die Anerkennung und den Respekt für die Geschlechtsidentität eines jeden Menschen. Um dieses Recht auszuüben, soll ein vereinfachtes Verfahren geschaffen werden, in dem jede Person dem Standesamt gegenüber beantragen kann, den Geschlechtseintrag zu ändern oder streichen zu lassen und/oder Vornamen zu ändern.
Wir unterstützen diese Absichtserklärung voll und ganz und möchten die Gelegenheit nutzen, an dieser Stelle die Beendigung der Pathologisierung von trans* Menschen, das Ende der Begutachtung durch Dritte und die Abschaffung hoher bürokratischer Kosten zu feiern. Des Weiteren betonen wir die größte Bedeutung, die durch die Schaffung von Gleichheit vor dem Gesetz für alle in Deutschland angemeldeten Menschen, unabhängig von Nationalität und Geburtsort, ermöglicht wird. Schließlich ist Geschlechtsidentität nicht von der Nationalität abhängig und nicht ortsgebunden. Diese wichtigen Aspekte des Gesetzes werden durch die Klarstellung ergänzt, dass notwendige medizinische Eingriffe nicht mehr vom Geschlechtseintrag einer Person abhängig sind. Dies ermöglicht es uns als Gesellschaft, das veraltete Konzept hinter uns zu lassen, dass Biologie und Geschlechtsidentität untrennbar miteinander verbunden sind.
Wir befürworten auch die Bestimmungen zur Änderung amtlicher Dokumente entsprechend dem neuen Geschlechtseintrag und Namen, was die Teilhabe am Arbeitsleben, die Jobsuche, die Beantragung von Krediten und den Zugang zu höherer Bildung sowie viele andere alltägliche Aufgaben erleichtern wird, ohne trans*, inter* und nicht-binäre Menschen dazu zu zwingen, ihre vorherigen Geschlechtseinträge und Namen zu offenbaren.
Als nicht-binäre Menschen begrüßen wir auch die Möglichkeit, entsprechend unserer Bedürfnisse, Vornamen zu wählen, die nicht zwangsläufig mit einem Geschlecht in Einklang sein müssen. Eine Kombination aus geschlechtsneutralen, weiblich und männlich konnotierten Vornamen wird ermöglicht, was die gelebte Realität vieler trans*, inter* und nicht-binärer Menschen widerspiegelt.
Was uns im Gesetzentwurf fehlt
Jedoch gibt es einige wichtige Bestimmungen, welche im vorliegenden Gesetzesentwurf weggelassen wurden:
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Die Selbstbestimmung über die Geschlechtsidentität ab 14 Jahren: ein entscheidendes Alter in der individuellen Entwicklung, um selbstbestimmt in einer vergeschlechtlichten Gesellschaft teilzuhaben.
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Eine Möglichkeit für Eltern, die sich nicht als Mutter oder Vater identifizieren, vom Zeitpunkt der Geburt ihres Kindes unter einer alternativen Bezeichnung eingetragen zu werden.
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Gesetzliche Quotenregelungen für Menschen, welche nicht als männlich oder weiblich registriert sind.
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Regelungen und Sanktionen bezüglich des Rechts auf Privatsphäre und Geheimhaltung von vorherigen Identitäten und ihrer Offenbarung.
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Reparationen, Aufarbeitung und Wiedergutmachungsleistungen für trans* und inter* Menschen, welche zu medizinischen Prozeduren gezwungen wurden, in denen ihre Genitalien unter der alten Gesetzgebung verstümmelt wurden, was eine Menschenrechtsverletzung darstellt.
All diese Bestimmungen wurden ursprünglich im Gesetzentwurf der vorherigen Legislaturperiode vorgeschlagen, von denselben Parteien, welche nun den aktuellen Gesetzentwurf mitverfasst haben. Im jetzigen Entwurf fehlen diese Bestimmungen leider entweder teilweise oder gänzlich.
Keine echte Selbstbestimmung für Jugendliche ab 14 Jahren
In diesem Gesetzentwurf werden Jugendliche im Alter von 14 bis 18 Jahren, deren Erziehungsberechtigte ihre Geschlechtsidentität nicht respektieren, vom Staat allein gelassen und müssen sich ihr Recht selbst erkämpfen. Statt ihnen zu helfen, Respekt und Anerkennung in ihrer bereits schwierigen Situation zu erlangen, erzwingt dieses Gesetz die Konfrontation mit ihren Sorgeberechtigten vor Gericht, falls diese nicht mit ihnen zustimmen, um den Eintrag zu erlangen, der ihre wahre Geschlechtsidentität und Namen widerspiegelt. Und dies in einem Alter, in dem sie noch sehr abhängig von ihren Erziehungsberechtigten in Bezug auf Sicherheit, Bildung und Lebensunterhalt sind. Ein Alter, in dem sie noch nicht versiert genug sind, eine Gerichtsverhandlung zu bestreiten und auch keine finanziellen Mittel haben, um ein Anwält*in zu ihrer Unterstützung zu bezahlen.
Unter Berücksichtigung dessen, dass Eltern von 64% der deutschen Jugendlichen deren Geschlechtsidentität oder sexuelle Orientierung nicht ernstnehmen und 47% diese gezielt ignorieren (Krell & Oldemeier 2015:20), sind wir der Meinung, dass es das Gegenteil einer Absicherung ihres Rechts auf Selbstbestimmung und Menschenwürde darstellt, Jugendliche von der Zustimmung ihrer Sorgeberechtigten abhängig zu machen.
Da es möglich sein wird, den Geschlechtseintrag nach einem Jahr wieder zu ändern, ist ein Schutz vor zukünftigen Konsequenzen nicht notwendig. Da der Geschlechtseintrag also nicht permanent sein muss, kann dieser mit der damit verbundenen Flexibilität Jugendlichen ermöglichen, während des Erwachsenwerdens und des Entwickelns der eigenen Geschlechtsidentität, den Geschlechtseintrag erneut zu ändern.
Beweislastumkehr beim Offenbarungsverbot
Eine andere Stelle an der dieser Gesetzesentwurf die Beweislast auf die Diskriminierten überträgt, ist Paragraph 14, der das Offenbarungsverbot beinhaltet, in welchem Personen für die sogenannte “absichtliche” Verwendung von Deadnames (also früherer Name) oder vorherige Geschlechtsidentität (z. B. durch misgendern) bestraft werden sollen. So sollen Betroffene, die ihren Geschlechtseintrag und Namen geändert haben, selbst beweisen müssen, dass die angeklagte Person dies absichtlich getan hat. Eine Absicht ist vor Gericht schwer zu beweisen. Diesen Beweis zu verlangen, stellt daher eine unangemessene Belastung für das Opfer eines solch verletzenden Verhaltens dar und schützt stattdessen die_den Täter_in. Des Weiteren steht dies im Widerspruch zu anderen Gesetzgebungen in Hinblick auf persönliche Schäden, weil die Absicht dahinter für die Frage der Entschädigung unerheblich ist.
Kein Wort zu Entschädigungsleistungen
Entschädigungen für trans* und inter* Menschen, die dazu gezwungen wurden, medizinische Maßnahmen ihrer Reproduktionsorgane unter den vorherigen Gesetzen zu erleiden, fehlen komplett in diesem Gesetzesentwurf. Dies zeigt, dass der Bundestag die Verantwortung von sich weist, die er für diese Verbrechen trägt. Wir kritisieren die Streichung und fordern eine Neuformulierung der Bestimmungen, welche im Eckpunktepapier dieser Legislatur durch dieselben Ministerien veröffentlicht wurden. Damals hieß es: “Ergänzend zu den neuen Regelungen werden Anerkennungsleistungen für trans- und intergeschlechtliche Personen, die aufgrund früherer Gesetzgebung von Körperverletzungen oder Zwangsscheidungen betroffen sind, geregelt.”
Unsichtbarmachung von Personen außerhalb der Zweigeschlechtlichkeit
Eine andere eklatante Auslassung in diesem Gesetzentwurf, ist die Bestimmung für Menschen mit “divers” oder keinem Geschlechtseintrag. In Paragraph 12 wird offen verkündet, dass gesetzliche Regelungen, die sich auf Männer und Frauen beziehen und für beide Geschlechter dieselben Rechtsfolgen vorsehen, gelten für Personen unabhängig von der im Personenstandsregister eingetragenen Geschlechtsangabe und auch dann, wenn keine Angabe eingetragen ist. Während es zu befürworten ist , dass Gesetzgebende einen Satz für die Sicherstellung unserer Gleichbehandlung eingefügt haben, fühlen wir uns als nicht-binäre Menschen dadurch nur ausgeschlossen und ignoriert, dass keine Forderung oder Versprechung zu einer zukünftigen Korrektur enthalten sind, die deutsche Gesetzgebung in Bezug auf die binäre Sprache “Männer und Frauen” oder “männlich und weiblich” zu ”Menschen aller Geschlechter” zu ändern. Da das Gesetz einen großen Einfluss auf die Gesellschaft, samt ihre Diskurse und Sprache nimmt, halten wir die Änderung aller Gesetzestexte, welche Geschlechtergerechtigkeit beinhalten, von “Männer und Frauen” zu “allen Geschlechtern” als notwendigen Schritt, um den öffentlichen Diskurs über Geschlecht und Geschlechtsidentität zu verbessern. Somit werden die Achtung und respektvolle Behandlung der Geschlechtsidentität eines jeden Menschen sichergestellt, nicht nur derer von Männern und Frauen.
Fehlende Regelungen für geschützte Räume
Darüber hinaus fehlen in Paragraph 6 Bestimmungen zu geschützten Räumen und der Teilhabe am organisierten Sport durch Menschen mit “divers” oder keinem Geschlechtseintrag. Aktuell ist es nicht vorgeschrieben, dass Institutionen, Organisationen und Sportvereine sichere Orte, wie geschlechtsneutrale Toiletten und Umkleidekabinen für nicht-binäre, inter* und agender Menschen zur Verfügung stellen müssen. Auch die Möglichkeit der Teilhabe am organisierten Sport ohne die Einteilung in Gruppen nach den Geschlechtern “weiblich” und “männlich” ist bisher nicht geregelt, obwohl die zweigeschlechtliche Einteilung im Gegensatz zu einer Geschlechtsidentität außerhalb dieser beiden Kategorien steht. Wir erwarten, dass in diesem Gesetz den zuvor benannten diskriminierenden Situationen entgegengewirkt werden muss, welche vor allem trans*, inter* und nicht-binäre Menschen betreffen. Dies kann durch obligatorische Regelungen umgesetzt werden, Räumlichkeiten zu schaffen sowie neue Sportkategorien und Möglichkeiten zu etablieren, die den Bedürfnissen von Menschen mit dem Geschlechtseintrag “divers” oder ohne Geschlechtseintrag gerecht werden.
Des Weiteren, während wir die Bedeutung der Unabhängigkeit im Sport anerkennen, ist es nicht akzeptabel, dass Sportvereine von der Sicherstellung von Menschen- und Grundrechten befreit werden. Inter* und trans* Frauen werden durchgängig und hochgradig im Sport diskriminiert, ausgeschlossen und gedemütigt. Dieses Gesetz muss klarstellen, dass solch ein verfassungswidriger Missbrauch nicht toleriert wird. Der Rechtsweg muss gewährleistet werden, falls eine Institution, Sportvereine eingeschlossen, daran scheitert, die Sicherheit, Integrität und Würde aller ihrer Mitglieder, unabhängig vom Geschlechtseintrag, sicherzustellen.
Fehlende Regelungen für nicht-binäre Strafgefangene
Gänzlich fehlen Regelungen für nicht-binäre, inter*, trans* und agender Strafgefangene. Die Gewährleistung ihrer Sicherheit und des Respekts gegenüber ihrer Identität sollte auf Bundesebene geregelt werden, statt diese an die einzelnen Bundesländer abzugeben. Weiterhin nennt das Justizministerium in seinen Fragen und Antworten Bestimmungen für trans* Frauen, aber macht diese abhängig von der Sicherheit anderer Gefangenen im Frauengefängnis, ohne jegliche Regelungen zur Sicherheit von Gefangenen zu treffen, welche ihren Geschlechtseintrag ändern. Dies steht in einem völligen Kontrast zum erklärten Zweck dieses Gesetzes.
Unbefriedigende Regelungen bei Quoten
Eine weitere Stelle, an der das Fehlen von Regelungen für Menschen mit “divers” oder keinem Geschlechtseintrag ein insbesondere praktisches Problem aufwirft, ist Paragraph 7.1, in welchem Quoten ausschließlich für die Teilhabe weiblicher und männlicher Personen genannt werden. Wir erwarten von der Gesetzgebung, die Schaffung von Quoten für Menschen weiterer Geschlechter anzuregen. Mindestens sollte erklärt werden, dass solche Quoten, die vom Geschlechtseintrag, welcher zum Zeitpunkt der Mitgliedschaftsdauer bestand, abhängig sind, sich auf alle Geschlechter beziehen (männlich, weiblich, divers, kein Eintrag). Die Einbeziehung dieser Regelung auszulassen, kann von Organisationen mit Quotenregelungen in Bezug auf Geschlecht als eine Erlaubnis verstanden werden, nicht-binäre, agender und inter* Menschen, sowie Menschen, die als divers oder ohne Geschlechtseintrag registriert sind, zu ignorieren. Es ist nicht klar, worauf sich Paragraph 7.3 bezieht. Nimmt dieser Bezug auf Quoten für weitere Geschlechter? Oder soll dieser einfach nur Organisationen die Erlaubnis geben, andere Daten zur Bestimmung von Quotenbesetzung festzusetzen? Und falls ja, wieso?
Fehlende Selbstbestimmung bei der Eintragung von Elternteilen
Zu guter Letzt sieht die vorgeschlagene Änderung von PStV, Paragraph 42, vor, dass der an erster Stelle eingetragene Elternteil auf einer Geburtsurkunde, d. h. die Person, die ein Kind geboren hat, zuerst als die “Mutter” und der zweite Elternteil zuerst als der “Vater” eingetragen werden soll. Um diese Eintragung in “Elternteil” zu ändern, muss ein Antrag gestellt werden, sofern die Eltern ihren Geschlechtseintrag zu “divers” geändert haben oder diesen haben streichen lassen. Diese Regelung basiert auf einem binären, cis-endo-normativen Verständnis von Geschlecht, nach welchem die gebärende Person als “Mutter”, also weiblich, und die andere Elternteil eine zeugungsfähige Person ist, als “Vater”, also männlich, bezeichnet wird. Während Eltern nach der Geburt ihres Kindes bereits genug Arbeit haben, werden sie unnötigen Verwaltungsakten unterworfen. Dies stellt das Gegenteil von Achtung und respektvolle Behandlung der selbstbestimmten Geschlechtsidentität dar. Eltern sollten die Möglichkeit haben, sich als “Elternteil”, “Mutter” oder “Vater” ihres Kindes in einer selbstbestimmten Weise eintragen zu lassen, statt einer diskriminierenden Norm unterworfen zu werden, welche ihnen vom Staat auferlegt wird. Der zweite Elternteil sollte nicht automatisch als männlich, Vater oder Zeuger assoziiert werden. Stattdessen sollte berücksichtigt werden, dass es viele weitere Familienmodelle gibt: der andere Elternteil könnte beispielsweise eine cis Frau, eine nicht-binäre Person oder ein cis Mann, welche nicht zeugungsfähig sind, oder ein Stiefelternteil sein. Um die Rechte des austragenden Elternteils zu gewährleisten, wie Rechte während der Schwangerschaft, Kündigungsschutz während der Schwangerschaft und Rechte nach der Geburt des Kindes, sollte das Gesetz klarstellen, dass die Rechte der gebärenden oder schwangeren Person sichergestellt werden.
Dies sind die Punkte, die wir im Gesetzesentwurf vermissen.
Was wir für überflüssig oder schädlich halten
Allerdings ist dieser Gesetzentwurf auch voller überflüssiger und zum Teil inakzeptabler Bestimmungen, welche nicht dadurch motiviert zu sein scheinen, den Wunsch nach Achtung und nach respektvoller Behandlung aller Geschlechtsidentitäten und die Sicherstellung des Grundrechts auf Selbstbestimmung zu gewährleisten. Diese Bestimmungen scheinen aber durch viele, angstgetriebenen und heraufbeschworenen imaginierten Szenarien angetrieben zu sein. In diesen Szenarien könnten vor allem cis Männer , welche das Gesetz nicht betreffen sollte, dieses Gesetz missbrauchen, um Schaden anzurichten, andere Menschen zu gefährden und den Staat zu täuschen.
Diskriminierende Verzögerung der Wirksamkeit von Personenstandsänderungen
Paragraph 4 beispielsweise fordert eine 3-monatige Wartezeit, bevor der Geschlechtseintrag und die Vornamensänderung rechtskräftig werden. Diese Wartezeit ist bei anderen Verwaltungsakten, die an Standesämtern durchgeführt werden, nicht vorhanden und daher diskriminierend. Auf uns wirkt es so, als wäre diese Regelung nicht getroffen worden, um uns die Möglichkeit zu geben, uns erneut bezüglich der Änderung unseres Geschlechtseintrags umzuentscheiden (dafür wäre eine Regelung adäquat, die Änderung innerhalb 3 Monaten rückgängig machen zu können), sondern um das unbegründete imaginäre Szenario zu beantworten: “Aber was, wenn ein endo cis Mann seinen Geschlechtseintrag ändert um geschützte Räume für Frauen zu infiltrieren oder die Frauenquote auszunutzen?” Diesen “ausgedachten Mann” für 3 Monate warten zu lassen, wird ihn in der Tat möglicherweise davon abhalten, so eine Aktion zu versuchen. Für die tausenden tatsächlich existierenden trans*, inter*, agender und nicht-binären Menschen, die bereits nach Monaten und Jahren innerlichen Verarbeitens und Überprüfens darauf warten, ihren registrierten Geschlechtseintrag und Vornamen zu ändern, stellt dies eine unnötige weitere Hürde dar. Zudem stellt diese 3 Monate Wartezeit eine Intervention Dritter durch die Gesetzgebenden dar, zusätzlich zu der darauffolgenden Zeit, die besteht, um sämtliche offiziellen Dokumente zu ändern.
Fehlende Selbstbestimmung bei Rückänderung von Vornamen
In diese Richtung fortschreitend, bestimmt Paragraph 5.2, dass wenn eine Person den Geschlechtseintrag zurück zum vorherigen ändern möchte, diese gleichzeitig den / die vorherigen Vornamen wieder annehmen muss. Wir können nicht nachvollziehen, warum die Gesetzgebenden als dritte Partei darüber entscheiden sollten, einen einzelnen Teil einer selbstbestimmten Identität von Personen vorzuschreiben, wenn ein registrierter Eintrag zurückgeändert wird. Auf uns wirkt es so, als ob dieser Paragraph nicht dafür da sei, unsere Fähigkeit eine vorherige Entscheidung zu bereuen, sondern um das unbelegte imaginäre Szenario zu beantworten: “Aber was, wenn eine endo cis Person dieses Gesetz nur benutzt um den Namen zu ändern, statt das bereits existierende Namensänderungsgesetz zu nutzen?” Diesbezüglich ist unser Standpunkt, dass wenn die Regierung tatsächlich so besorgt um diesen Fall ist, sollte vielleicht eher das generelle Verfahren zur Namensänderung (NamÄndG) angepasst und vereinfacht werden, so dass dies nicht so unerträglich ist, dass ein Verfahren zur selbstbestimmten Geschlechtsidentität als eine attraktive Alternative erscheint.
Davon ganz unabhängig verläuft der Weg, die eigene Geschlechtsidentität zu verstehen, nicht zwangsläufig linear. Zurück zu einem vorherigen Geschlechtseintrag zu gehen, muss nicht notwendigerweise bedeuten, dass der Vorname, den eine Person mit diesem Geschlechtseintrag in der Vergangenheit hatte, zur aktuellen Geschlechtsidentität passt. Des Weiteren können Namen die Hauptursache für Dysphorie sein und selbst wenn eine Person wieder die vorherige Geschlechtsidentität annimmt, dazu gezwungen wird, einen vorherigen Vornamen wieder anzunehmen, kann großes psychisches Leid hervorrufen. Wir möchten die Gesetzgebenden erneut daran erinnern, dass Menschen, deren Geschlechtseintrag mehr als ein Mal angepasst werden muss, nicht diejenigen sein sollten, die den Preis für die aktuell möglicherweise nicht adäquate Gesetzgebung zur Namensänderung zahlen sollten.
Fortsetzung transphober Narrative
Paragraph 6.2 ist einer der am meisten alarmierenden und eklatantesten Fälle einer überflüssigen und schädlichen Bestimmung, welche durch ein imaginiertes Szenario motiviert ist. Diese Klausel dient nicht dazu, das Recht auf Selbstbestimmung zu stärken, die Geschlechtsidentität ausleben zu können, sondern die Ängste von Menschen zu fokussieren, welche ihre Geschlechtseinträge nicht ändern müssen. Im besten Fall handelt es sich um das Szenario, in welchem ein cis Mann seinen Geschlechtseintrag zu “weiblich” ändert um sich Zugang zu geschützten Räumen für Frauen zu verschaffen und dort Frauen zu gefährden. Im schlechtesten Fall handelt es sich um das Szenario, in welchem cis Frauen sich bedroht oder unwohl durch die Präsenz von trans Frauen fühlen, was einfach gesagt, transphobe Diskriminierung ist. Wie in den Fragen und Antworten des Justizministeriums genannt, repräsentiert dieser Paragraph keine Änderung bereits existierender Gesetzgebung. Daraus folgend ist dieser überflüssig und sollte komplett aus dem Gesetzesentwurf gestrichen werden. Ein weiterer Grund, der die Notwendigkeit diesen Paragraph aus dem Gesetzesentwurf zu entfernen, unterstreicht, ist, dass dieser statt die Achtung und respektvolle Behandlung Menschen aller Geschlechtsidentitäten sicherzustellen, schädliche und diskriminierende Vorurteile gegenüber trans-femininen Menschen verstärkt. Der Paragraph könnte Organisationen und Veranstaltende dazu ermutigen, Menschen auszuschließen und zu diskriminieren, welche nicht als “ausreichend weiblich” wahrgenommen werden, wenn sie trans* oder inter* sind.
Falls die Koalition jedoch daran festhalten will, dass das Hausrecht durch dieses Gesetz unberührt bleibt, sollte diese wenigstens in demselben Paragraphen auch klarstellen, dass das AGG gleichermaßen durch das SBGG unberührt bleibt. Der Ausschluss von Menschen, einzig basierend auf deren Geschlechtsidentität, Geschlechtsausdruck oder ihres Erscheinungsbildes, darf nicht zulässig sein.
Diskriminierung im Verteidigungsfall
Paragraph 9 geht noch weiter als alle zuvor aufgeführten, angstbasierten, unnötigen und schädigenden Regelungen dieses Gesetzentwurfs, da dieser das Recht der Selbstbestimmung von Menschen mit einem männlichen Geschlechtseintrag im Verteidigungs- oder Spannungsfall komplett ablehnt. Es wird sogar eine zweimonatige rückwirkende Frist eingeführt. Dies beinhaltet die Verweigerung ihrer Rechte und scheint erneut auf einem imaginierten Szenario zu basieren: “Was, falls Männer versuchen, eine obligatorische Einberufung zu verhindern, indem sie ihren Geschlechtseintrag fälschlicherweise ändern?” Männer haben allerdings bereits jetzt das Recht, den Militärdienst an der Waffe abzulehnen, was im Art. 4, Abs. 3 GG geregelt ist. Daher gibt es überhaupt kein Motiv für sie, den Geschlechtseintrag zu ändern, um eine Wehrpflicht zu vermeiden. Die einzige reale Konsequenz dieses Paragraphen wäre es, die Selbstbestimmung von Menschen mit einem männlichen Geschlechtseintrag abzulehnen, aus Gründen dritter Parteien, die nichts mit der persönlichen Geschlechtsidentität zu tun haben, auch nicht mit Erwägungen der staatlichen Sicherheit.
Unser Standpunkt ist, dass die oben genannten unnötigen, überflüssigen und potentiell schädlichen Bestimmungen, die auf imaginierten Szenarios basieren, aus dem Gesetzesentwurf entfernt oder wie oben vorgeschlagen geändert werden sollten.
Wir appellieren an die Koalition, die sich dazu verpflichtet hat, den Menschen, die sie gewählt haben und aller andere in Deutschland wohnhaften Menschen, die grundlegende Menschenwürde und das Grundrecht den eigenen Geschlechtseintrag und Vornamen zu bestimmen, im ursprünglich versprochenen Umfang zu gewährleisten: Furchtlos die Versprechungen, die die Koalitionsparteien seit mehr als drei Jahren machen, in die Tat umzusetzen; und nicht diese grundlegende Menschenwürde und das Verfassungsrecht unbegründeten Bedenken zu unterwerfen, die auf imaginären Szenarien beruhen und somit den diskriminierenden und vorurteilsbehafteten Diskurs fördern, der diese Szenarien propagiert.Und zu guter Letzt sind wir als eine nicht-binäre Interessenvertretung hier, um Sie daran zu erinnern, dass dieses Gesetz auch unsere Menschenwürde und Rechte sicherstellen soll und nicht nur die der Menschen, die sich mit den binären Geschlechtern männlich und weiblich identifizieren.
Wir danken Ihnen für Ihre Bemühungen, die Grundrechte aller in Deutschland lebenden Menschen, unabhängig von ihrem Geschlecht, zu stärken.
Mit freundlichen Grüßen,
nonbinary.berlin
Letztes Update: 2023.05.31